2016, 11, 13, Predigt am Volkstrauertag, Röm 8,18-25

Liebe Gemeinde!

Ich denke aber, dass die Leiden der Jetztzeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der kommenden Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.“ schreibt uns der Apostel Paulus zum Volkstrauertag 2016. Ich bin immer wieder gleichzeitig verblüfft und sehr dankbar darüber, dass Paulus es wagt, solche Sätze zu schreiben. Paulus ist kein Mensch der Leiden verniedlicht, verschweigt, kleinredet. Er hat am eigenen Leib mehrfach Sachen erlebt, die ich nur vom Hörensagen kenne: er ist mehrfach wegen seines Glaubens im Gefängnis gewesen, ist drei Mal mit mit dem Schiff in Seenot geraten und beinahe ertrunken. Er hat fünf Mal wegen seines Bekenntnisses zu Jesus die jüdische Höchststrafe bekommen: 39 Peitschenhiebe. Er ist gesteinigt worden. Und außerdem macht er keinen Hehl daraus, wie ihn der Streit in und mit seinen Gemeinden innerlich zerreißt.

Es gibt etwas, das schwerer wiegt, dass stärker ins Gewicht fällt als das Leiden hier und jetzt. Schwerer, viel schwerer wiegt die Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Sage nicht ich, Gottes Wort sagt es uns. Gottes Heiliger Geist versucht uns mit Hilfe dieser Worte des Apostels zu trösten. Die Herrlichkeit, die kommt, die Gott verheißen hat, wiegt schwerer als die Millionen jüdischer Männer, Frauen und Kinder, die von den Nazis ermordet wurden. Sie wiegt schwerer als die Not der Soldaten, die durch das, was sie in Russland oder Frankreich während des deutschen Angriffskrieges erlebt haben, ihren Glauben verloren haben. Die Herrlichkeit, nach der wir uns sehnen, wiegt schwerer als die Gewalt, als die körperlichen und seelischen Grausamkeiten, die so schrecklichen vielen Frauen von Männern angetan werden, und das nicht nur an den Orten, an denen Kriege geführt werden.

Die Herrlichkeit, von der uns Gott versprochen hat, dass sie kommt, wird schwerer wiegen als das, was Sie, als das, was Du erleidest, schwerer als Deine Krankheit, als Deine schlimmer werdenden Schmerzen, schwerer als Deine Einsamkeit, als Deine bittere Niederlage, als das Unrecht, dass Dir angetan wird, schwerer als Eure pausenlosen Missverständnisse und Eurer aneinander Vorbeireden und aneinander Vorbeileben, schwerer als die Gründe, die Lebensumstände, die Menschen dazu bringen, sich das Leben zu nehmen.

Ja, stimmt das?“ fragen wir bange, „ist das wirklich so? Ist das kein Versuch, uns zu vertrösten, uns ruhig zu stellen?“ Damit rechne ich fest, sagt Gottes Wort aus dem Mund seines Apostels, dass die Leiden der Jetztzeit nichts ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. An den Leidenden wird sie zuerst offenbar werden.

Unrecht und die Strukturen, die es stützen, schreien nach Veränderung so schnell es nur möglich ist. Sie behaften uns auf unsere Verantwortung. Nur, auch die beste menschliche Revolution, sollte sie denn endlich gelingen, wird nicht ungeschehen machen, was geschehen ist. Sie wird die Toten nicht wieder lebendig machen, sie wird den Getöteten nicht zu ihrem Recht verhelfen.

Die Ängstlichkeit der Schöpfung harrt darauf, dass die Söhne Gottes offenbar werden. Ängstlich harrt Gottes Schöpfung darauf, dass ans Licht kommt, dass sichtbar wird, wie Gott sich seine Söhne und Töchter gedacht hat: als Menschen die füreinander leben, statt sich gegenseitig das Leben streitig zu machen. Voller Bangen harrt die Schöpfung darauf, ob’s denn wahr ist, dass es nichts und niemanden gibt, der Gottes Söhne und Töchter von der Liebe Gottes scheiden, kann, von der Liebe, wie sie in Jesus Christus sichtbar geworden ist. Sie harrt darauf, dass wahr wird, dass nichts und niemand Gottes Söhne und Töchter aus seiner Hand reißen kann: weder Hohes noch Tiefes, weder Engel, noch Mächte, noch Gewalten, der Tod nicht, das Leben nicht.

Die Schöpfung, schreibt uns Paulus, ist nämlich der Vergänglichkeit unterworfen. Sie hat sich das nicht ausgesucht. Es ist nicht auf ihren Wunsch hin geschehen. Es ist kein ewiges Gesetz der Natur, dass wir vergängliche Wesen sind, die seit ihrer Geburt, von ihrem ersten Atemzug an, auf den Moment zu leben, an dem unser Atem stehen bleibt und wir wieder zu Erde werden. Gott hat seine Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen. Er hat es so geordnet. Er hat es für unser Leben auf dieser Erde für gut befunden, dass wir unser Leben in dieser Beschränkung leben, auch wenn wir noch so sehr dagegen rebellieren mögen.

Aber Gott hat seine Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen auf Hoffnung hin. Wir leben als vergängliche Erdenwesen in der Hoffnung, dass noch nicht erschienen ist, wer wir sein werden. Wir wissen noch nicht, wer wir sein werden, wenn wir Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen.

Das ist die Hoffnung, die Gott in uns weckt, dass auch diese Schöpfung befreit wird aus ihrem Sklavendienst der Vergänglichkeit zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. Die Hoffnung, die Gott in uns hineingelegt hat, als er Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, ist nicht der Privatbesitz von uns paar frommen Christen und Christinnen. Sie ist Hoffnung für Gottes Schöpfung, für seine Welt, in der wir Menschen Tag für Tag so viel Zerstörung, so viel Elend, so viel Leid anrichten.

Wie klein und gering und bescheiden und verkümmert ist die Hoffnung, die wir in uns selbst wahrnehmen. Da gewinnt Donald Trump die Wahlen in den USA und wir sind wie blockiert und sehen die Welt, wie wir sie kennen, aus dem Ruder laufen. Da scheinen wir bei einem Menschen, der uns am Herzen liegt, auf Granit zu stoßen, und wir verstehen die Welt nicht mehr.

Gelobt sei unser Gott, der so ein treuer, auf ewig verlässlicher Bündnispartner ist. ER ist unsere Hilfe in jeder Not, er wartet nur darauf, uns sein Ohr zu leihen, er hält uns die Hand hin, um uns aufzuhelfen, wenn wir gestolpert sind. Er hält sich Morgen für Morgen bereit, um neu mit uns den Tag zu beginnen. Er nagelt uns nicht auf die schlechten Erfahrungen fest, die er noch gestern mit uns gemacht hat. Gelobt sei unser Gott, der versprochen hat, dass er das Werk seiner Hände nicht preisgibt, der dafür kämpft, dass Du und ich keine Sklaven bleiben.

Wir wissen nämlich, dass die ganze Schöpfung mit uns seufzt und sich mit uns ängstet. Mit uns Christen und Christinnen seufzt und ängstet sich die gesamte Natur: das aus dem Gleichgewicht gebrachte Klima, die vom Monokulturanbau ausgelaugten Böden, die an den Abgasen zugrunde gehenden Pflanzen, die abgeholzten Regenwälder, die Tiere, die zur Erforschung der menschlichen Gesundheit unter elenden Schmerzen ihr Leben gelassen haben, die Tiere, die aus purer Profitgier gejagt und getötet werden, die Tiere, die wir zu wehrlosen Objekten in unserer Nahrungskette degradiert haben, die ausgesetzten Haustiere, die mit fortschreitendem Alter ihren Besitzern lästig geworden sind

Mit uns Christen und Christinnen seufzen und ängstigen sich Menschen in allen Völkern, an allen Orten unseres Erdballs. Sie seufzen und ängstigen sich wegen dem, was ihr Leben bedroht, was es manchmal unerträglich macht, wegen der Sorge um ihr Auskommen, wegen der Sorge, um die Menschen, die sie lieben. Sie seufzen und ängstigen sich in ihrem Erschrecken über sich selbst, dem Entdecken, wozu sie fähig sind; in der Wahrnehmung, dass sie endlich sind, dass ihre Kräfte weniger werden. Sie seufzen und ängstigen sich in ihrer Ratlosigkeit über die Welt, in ihrem Gefühl der Ohnmacht, gerne etwas ändern zu wollen, aber nicht zu wissen wie.

Und die Atheisten und Atheistinnen, die, die sich von Gott losgesagt haben, die, die nicht glauben können oder nicht glauben wollen? Liegt auch in ihrem Groll, in ihrer Verachtung eine Form von Protest, eine unbewusste Form von Protest gerichtet an Gottes Adresse, von dem sie sich losgesagt haben, weil sie an seine Existenz nicht glauben, geschweige denn an seine rettende Gnade. Ob die angstvoll seufzenden Tier und Menschen darauf hoffen oder nicht, ihr Seufzen dringt an Gottes Ohr. Es wird bei ihm nicht auf taube Ohren stoßen.

Nicht allein aber die Tiere, die Pflanzen, die anderen Menschen, sondern auch wir selbst, die den Geist als Erstlingsgabe haben, auch wir seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes.

Wir leben als Christen und Christinnen nicht aus uns selbst. Wir leben aus der Kraft des Heiligen Geistes. Wann immer wir unsicher sind, wann immer wir unseren Halt verlieren, erinnert uns der Heilige Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Er erinnert uns an das, was Jesus uns versprochen hat: Ich lebe, und ihr sollt auch leben.

Und gleichzeitig ist es so, wie Jesus uns gesagt hat: in der Welt haben wir Angst. Wir stehen als Christen und Christinnen nicht über den Dingen. Wir stehen mittendrin in den Diskussionen, den Kämpfen und Auseinandersetzungen. Auch wir kennen die Unsicherheit über den richtigen Weg, den wir einschlagen sollen, die Müdigkeit und die Versuchung, aufzugeben, alles hinzuschmeißen. Die Ängste der Anderen sind auch unsere Ängste. Nichts davon ist uns völlig fremd.

Auch uns fällt es schwer, am Bett eines todkranken Menschen zu sitzen, mitanzusehen, welche Gewalt der Krebs einem menschlichen Körper antut, und die Ohnmacht zu verspüren, nichts dagegen ausrichten zu können. Auch wir wissen nicht, wie das sein wird, wenn wir sterben werden, wie stark, wie schwach unser Glaube dann sein wird, ob und wie sehr wir uns fürchten werden.

Auch uns fällt es schwer, die Spuren des Älterwerdens in unserm Gesicht, an unserer Haut wahrzunehmen. Auch wir sorgen uns, wie Kriege gestoppt, wie der Hass zwischen den Völkern und die Angst voreinander besiegt, wie das Unrecht und die Ausbeutung weniger werden können.

Wenn es einen Unterschied gibt zwischen dem Seufzen und dem sich Ängstigen der anderen und unserm eigenen, dann diesen: Unser Seufzen, unsere Angst, unser Sehnen hat ein Ziel. Wir wissen um die Adresse, auf die es sich richtet: auf den lebendigen Gott, den Gott Israels, der gnädig und barmherzig ist, der den Armen und Unterdrückten und den Fremden Recht schafft. Unser Sehnen richtet auf unseren Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist und den Gott von den Toten auferweckt hat, damit auch wir durch ihn leben werden, in seiner Gegenwart, für immer.

Wir sehnen uns nach der Erlösung, nach der Befreiung unseres Leibes. Wir sehnen uns nicht danach, von unserem Leib erlöst zu werden, ihn loszuwerden, ihn als eine hinderliche Hülle hinter uns zu lassen. Wir sehnen uns danach, verwandelt, mit einem neuen Leib überkleidet zu werden, einem neuen, einem anderen Leib, dem die Verwesung nichts mehr anhaben kann. Wir sehnen uns nach der Herrlichkeit der Kinder Gottes. Wir sehnen uns danach, dort zu Hause zu sein, wo der Streit und die Angst voreinander überwinden sind, wo wir die Angst vor dem Lieben verloren haben. Wir sehen uns nach dem Ort, an dem Gott den Opfern der Geschichte zu ihrem Recht verhilft, auch dann, wenn wir nicht zu den Unschuldigen gehören.

Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung, denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wen wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Gerettet, doch auf Hoffnung. Aus beklemmender, würgender Enge ins Weite gerettet, dorthin, wo wir wieder frei atmen können, aber auf Hoffnung. Dass wir das bloß nicht wie einen Abstrich, wie ein Fragezeichen hören. Für biblische Menschen gibt es nichts Sichereres, nichts Gewisseres als die Hoffnung. Denn die Hoffnung kommt nicht aus uns. Sie kommt von unserem Gott. Er weckt sie in uns. Er nährt sie, er schürt sie. Er bringt sie zum brennen.

Mit der Hoffnung, die Gott in uns weckt, ist es wie mit dem Glauben, wie mit unserem Vertrauen auf ihn. Sie ist nicht unser Besitz, sondern sein Geschenk. Wir haben das, worauf wir hoffen, nicht in unserem Griff. Wir können nur darauf warten. Und warten heißt, es tätig erwarten. Dazu haben wir den ausdrücklichen Befehl, dazu haben wir die ausdrückliche Erlaubnis: dass wir uns nach dem Ziel unserer Sehnsucht ausstrecken: mit all unseren Sinnen, mit all unseren Gedanken, in allem, was wir tun. Auf dass die Aussicht auf die Herrlichkeit der Kinder Gottes, uns in ihren Griff bekommt und uns nie wieder loslässt.

Amen

Winfried Reuter

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