Gottesdienst am 6.11.2016, Predigt, „… ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn“ (Röm 14,7-9)

Liebe Gemeinde!

Ich weiß nicht, wie es Ihnen, wie es Euch geht: Ich bin sehr froh, dass ich diese Worte heute morgen hören darf. Ich freue mich, dass ich mir diese Worte aufs Neue von Paulus zusprechen lassen darf. Ich freu mich, dass ich diese Worte an Sie und Euch weitergeben, dass ich versuchen darf, sie uns gemeinsam groß und wichtig zu machen. Ein Grund warum ich es verführerisch finde, die Bibel aufzuschlagen: Wenn ich die Bibel aufschlage, kann ich mir sicher sein: Hier bekomme ich nicht das zu hören, was ich schon von selber weiß, nicht das, worüber ich mir sowieso sicher bin.

Niemand lebt sich selbst und niemand stirbt sich selbst. Du bist Dir nicht selbst die Nächste. Ich bin mir nicht selbst der Nächste. Dass da jemand angelaufen kommt und Dir seinen erhobenen Zeigefinger unter die Nase hält und Dich anmacht. Sei nicht so egoistisch, hör auf, Dich um Dich selbst zu drehen, das kennen wir. Dass Du Deinen Freund, Deine Freundin, Deine Kollegin anmachst: Sei nicht so egoistisch, hör auf, Dich immer nur um Dich selbst zu drehen! Das kennst Du. Wie lang ist das letzte Mal her: 2 Wochen, 2 Tage, zwei Stunden?

Aber hier, in der Bibel, im Römerbrief, da kommt niemand mit erhobenem Zeigefinger an. Paulus hält das ruhig, sachlich und bestimmt fest: Niemand von uns, kein einziger, keine einzige, lebt sich selbst und niemand stirbt sich selbst.

Ob Du das weißt, ob Du das glaubst, ob Du das gut findest ob Du Angst davor hast, ob Dich das ärgert, das ist natürlich nicht egal, aber vergleichsweise nebensächlich: Du lebst nicht für Dich selbst. Du magst Dich gerade unter tausenden Dir wildfremden Menschen bewegen, Du magst von morgens bis abends noch mit keinem einzigen Menschen gesprochen und vergeblich darauf gewartet haben, dass Dich jemand anspricht oder anruft: Du lebst nicht für Dich allein. Du bist nicht das einsame, in sich selbst verschlossene Wesen, das von der Sorge um sich selbst regiert wird auch dann nicht, wenn Du Dir selbst so vorkommen solltest.

Du magst die anderen vermissen Du magst Dich nach den anderen sehnen, Du magst Dich über sie ärgern, Du magst sie verfluchen, Du magst an Euren Missverständnissen verzweifeln, Du magst einfach glücklich sein, dass Du sie hast, dass sie da sind, dass ihr miteinander lachen und weinen könnt, dass du keine Scheu hast, wenn es sein muss auch nachts um halb vier bei ihnen anzurufen oder an der Haustur zu klingeln.

In allem, was Du tust, was Du sagst, was Du denkst, was Du fühlst, lebst Du bezogen auf andere Menschen. Du bist nicht allein in Deiner einsamen, ganz besonderen Gedankenwelt, die es so nur einmal auf diesem Erdball gibt. Da sind keine unüberwindlichen garstigen Gräben zwischen den anderen und Dir, die Du erst mal Schubkarre für Schubkarre zuschütten musst, um so etwas wie Kontakt zwischen Euch zu ermöglichen.

Die anderen, das ist Dein Leben. Ihre Sorgen, ihre Verzweiflung, ihre Angst, ihre Skepsis, ihre Hoffnung, ihre Begeisterung, das ist dein Leben. Mit den anderen sein, das heißt leben. Mit ihnen streiten, sich auf die Nerven gehen, an einem Strang ziehen, im gemeinsamen Streiten einen langen Atem bewahren, sich auf den Schlips treten lassen, mit dem den anderen verstehen lernen noch mal ganz von vorne anfangen; frei werden, der anderen zu vergeben, auch wenn sie noch gar nicht verstanden hat, womit sie Dir weh getan hat, die unverhofft Gnade, dass die andere Dir schon lange vergeben hat, weswegen Du Dir wochenlang so einen Kopf gemacht hast, das ist dein Leben. Mit den anderen sein, das heißt leben.

Niemand lebt sich selbst. Wie kann Paulus da so sicher sein? Hat er das denn noch nie erlebt, das heftige Gefühl, von den anderen die Nase gestrichen voll zu haben, nur noch den Wunsch, sich mit einer Wärmflasche und was Heißem zu trinken unter der Bettdecke verkriechen, nichts mehr hören, niemanden mehr sehen wollen, allein sein, für sich sein, nur noch abschalten, endlich zur Ruhe kommen. Wenn ich in den Korintherbriefen lese, wie Paulus der heftige Streit innerhalb der Gemeinde in Korinth und zwischen Leute in der Gemeinde und ihm zu Herzen gegangen, ihn mehr als einmal zum Weinen gebracht hat, dann kann ich mir schwer vorstellen, dass für Paulus solche Rückzugssehnsüchte Fremdwörter sind,

Trotzdem, oder vielleicht weil er solche Rückzugssehnsüchte nur zu gut von sich selber kennt, was er uns mit auf den Weg gibt, ist etwas anderes: Niemand lebt sich selbst, sondern, was wir leben, das leben wir dem Herrn.

Das ist der Punkt, der den Unterschied ausmacht, der Herr, den wir haben, was für ein Herr das ist. Wir haben in Jesus Christus einen Herrn, der nicht für sich selbst gelebt hat. Wir haben in ihm einen Herrn, der sich für die Menschen, mit denen er zu tun hatte, zum Diener gemacht hat. Du hast in Jesus Christus einen Herrn, der sich für Dich zum Diener gemacht hat und der Dir heute an diesem Septembermorgen dient, und der das morgen, wenn Du in die Schule, zur Arbeit gehst, wenn Du die Hausarbeit in Angriff nimmst, wieder tut. Er dient seinen Freunden. Er dient den Menschen, die in ihrem Hunger nach Leben und in ihrem Durst nach Gerechtigkeit zu ihm kommen, weil sie wissen, dass sie bei ihm willkommen sind und er sie nicht wegschicken wird

Er dient seinen Feinden. Er dient den Menschen, die ihn missverstehen, die ihm vorwerfen, dass er sich selbst zu Gottes Sohn macht. Er dient denen, die sich durch ihn in Ihrer Macht bedroht fühlen. Er dient uns durch seine Worte und dadurch, dass er uns widerspricht, wenn er es für nötig befindet. Er dient uns dadurch, dass er uns den Vater im Himmel groß macht, durch das, was er uns über ihn erzählt, vor allem aber durch das, was er aus der Kraft der Beziehung zu seinem Vater im Himmel lebt.

Er dient uns dadurch, dass er sich einen Dreck um seine eigene Ehre schert. Er lässt sich lieber als Lügner darstellen, ins Gesicht spucken, die Hände und Füße an die Balken des Kreuzes, des römischen Folterinstruments nageln, als sich von uns loszusagen.

Er dient uns, in dem er mit seinem Leben für uns eintritt. Er dient uns, indem er sich auch sterbend nicht zum Hassen hinreißen lässt. Er dient uns, in dem er in seiner Todesangst zum Vater im Himmel fleht. Er dienst uns, indem er noch sterbend für die betet, die ihn hassen, die ihn verachten, die ihn quälen, die ihn verraten, die ihn verleugnen, die ihn im Stich lassen. Er dient uns, indem er Tag für Tag zur Rechten Gottes für uns eintritt und den Vater im Himmel daran hindert, die Flinte ins Korn zu werfen und uns verloren zu geben.

Diesem Herrn leben wir, der unser Diener ist, der sein Leben nicht für sich haben wollte, sondern um es für uns herzuschenken. Er ist mit seinem Leben für uns eingetreten, die nicht wissen, ob sie die Kraft haben werden, ihm treu zu sein, wenn es brenzlig wird. Er ist mit seinem Leben für die eingetreten, die wir liebhaben. Er liebt sie mit all ihren Seiten. Er liebt sie mit dem, was wir ihre Macken nennen, er liebt sie mit dem, worin sie uns fremd bleiben und was ihr Geheimnis ausmacht, dass wir nicht ergründen werden, ohne es zu zerstören.

Er tritt mit seinem Leben für die ein, die bei uns unten durch sind, für die, die wir abgehakt haben, für die, bei denen wir sagen „geht gar nicht“, für die, die wir als Idioten bezeichnen, für die, die wir für Langweiler halten, für niveaulos, für Asis oder was auch immer. Er schämt sich ihrer nicht, wie er sich meiner nicht schämt. Er hält ihnen die Treue. Er denkt im Traum nicht daran, sich von ihnen zu distanzieren, falls mir das nicht passt. Eher wird er mich Trotzkopf im Regen stehen lassen. Niemand von uns lebt sich selbst. Leben wir, so leben wir dem Herrn. Ohne die Seinen, ohne die, für die er sein Leben gehabt hat, ist unser Herr Jesus für niemanden von uns zu haben.

Niemand stirbt für sich allein. Sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ich bin froh, dass ich mir das heute morgen zusprechen lassen darf. Wie sollte ich aus mir selbst den Mut nehmen, solche Worte zu sagen? Wie sollte ich aus mir selbst es wagen, diesen Worten glauben zu schenken, im Blick auf den Tag, an dem ich sterben werde.

Wie viele Menschen sterben ganz allein, oder wenigstens ohne einen Menschen an der Seite zu haben, der ihnen im Leben nahe gestanden hat, aus welchen Gründen auch immer, weil sie so alt geworden sind, dass es kaum noch solche nahestehenden Menschen gibt, weil die, die ihm nahestehen, so schnell nicht da sein konnten, wie sie gerne gewollt hätten. Ich glaube, die meisten Menschen wünschen sich das, im Sterben jemand an der Seite zu haben, der sie lieb hat, der sie vielleicht sogar in seinen Armen hält. Aber niemand kann Dir, niemand kann mir das Sterben abnehmen.

Wenn Du stirbst, wenn ich sterbe, sterben wir dem Herrn. Wenn Du stirbst, wenn ich sterbe, bleiben wir im Herrschaftsbereich Jesu Christi. Wir fallen niccht aus dem Bereich in dem er regiert. Wir verlassen nicht den Rau, in dem sein Wort gilt und in dem er sein Wort spricht: In der Welt habt ihr Angst aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. Kommt, her zu mir, ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken. Ich leben, und ihr sollt auch leben. Wir verlassen nicht den Raum, in dem er uns gebietet: Sorget nicht um den morgigen Tag, jeder Tag hat seine eigene Sorge.

Wir bleiben in dem Raum, in dem er uns gebietet, in dem er uns die ausdrückliche Erlaubnis gibt, Gott und unseren Nächsten zu lieben: unseren Gott, der uns unser Leben gegeben hat und der jetzt sagt: Komm wieder Menschenkind, den zu lieben, der für uns gestorben und auferstanden ist, den zu lieben, der seinem geliebten Sohn Gericht und Urteil über die Welt, die Völker und jeden einzelnen Menschen, den, der Christus damit beauftragt hat, zwischen Recht und Unrecht zu schlichten.

Das ausdrückliche Gebot, die ausdrückliche Erlaubnis meinen Nächsten zu lieben: den Arzt, dem ich dankbar bin für viele gute Gespräche: für seine Geduld, seine Aufmerksamkeit, seine klaren Worte, sein Einfühlungsvermögen, und der ausgerechnet heute mit seinen Gedanken ziemlich woanders zu sein scheint,

die Menschen, die mir gut getan haben, in deren Mitte ich willkommen war, die ihr Leben mit mir geteilt haben, die mir Liebe schuldig geblieben sind, denen ich viel Liebe schuldig geblieben bin.

Ob wir leben, ob wir sterben, wir sind des Herrn. Wir sind in seiner Hand, gehören zu ihm, auf seine Seite. Wir gehören dem, der uns gesucht und gefunden hat, der mit seinem Leben für uns eingetreten ist, der jedem das Recht abspricht gegen uns zu sein, weil er für uns ist.

In unserem Leben wie in unserem Sterben, in unserem Sterben wie in unserem Leben gehören wir unserem Herrn, nicht uns selbst und nicht anderen, nicht dem, was die anderen und was wir selbst über uns sagen, sondern einzig und allein dem, was unser Herr über uns sagt. Wir gehören nicht unseren Gedanken, unseren Gefühlen, wir gehören mit all unseren Taten unserm Herrn. Wir gehören nicht den Ansprüchen der anderen und nicht unseren eigenen, wir sind nicht ihre Sklaven, wir sind ihnen nicht schutzlos ausgeliefert.

Wir gehören nicht unserer verständlichen Wut, nicht unserem berechtigten Hass, nicht unserer Angst, nicht unserer Verzweiflung. Wir gehören mit unserer Wut, unsrem Hassen, unser Angst, mit all dem Stückwerk, dass wir in unserem Leben zustande gebracht haben, unserem Herrn.Ob wir voller Vertrauen ihm gegenüber sind, ob wir uns mit Zweifeln herumplagen, ob uns unser Glaube so jämmerlich schwach vorkommt, wir gehören nicht uns selbst, wir gehören dem, dem, der für uns gestorben und auferstanden ist, der uns im Leben wie im Sterben mit seiner Liebe empfängt.

Wie sollten wir uns all das aus uns heraus sagen. Gott sei Dank, dass er uns heute aufs Neue durch den Mund seines Apostels zuspricht: Dazu ist Christus gestorben und lebendig geworden, dass er über Lebende und Tote Herr, dass er sein Reich unter uns aufrichte.

Amen

Winfried Reuter
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