2016, 04, 13, 1. Joh 4,1-4a, Predigt auf der Pfarrkonferenz, Kirchenkreis Vlotho

 

Liebe Gemeinde!

Glaubend wagen wir es, Dinge zu behaupten, die anderen wie eine Anmaßung vorkommen, die ihnen wie eine Anmaßung vorkommen müssen. Im täglichen Vertrauen, einen zittrigen Schritt vor den anderen setzend, wagen wir es zu sagen: alles, was aus Gott geboren ist, besiegt die Welt. Und dies ist der Sieg, der die Welt besiegt hat: unser Glaube, dass der Messias Jesus, Sohn Gottes, für uns gestorben und auferstanden ist, für unsere Sünden, als Gegengift gegen unsere Sünden.

Das ist der Sieg, der dem Wesen dieser Welt das Rückgrat gebrochen hat, dass der Messias Jesus uns zuerst geliebt hat, auf das wir uns trauen, einander zu lieben. Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die Furcht rechnet mit Strafe. Wer sich aber fürchtet der ist nicht vollkommen in der Liebe. Wie kommt ihr Christen und Christinnen dazu, alles auf diese Liebe zu setzen? Wie kommt ihr dazu, Jesus als den Messias zu bekennen?

Wisst ihr nicht, dass das Werk des Messias darin besteht, dass Israel in Frieden in der Gemeinschaft der übrigen Völker leben kann.? Wie passt dazu, dass in Eurem Land noch 71 Jahre nach dem durch die Alliierten erzwungenen Ende der Shoa kein jüdischer Gottesdienst ohne Polizeischutz stattfindet?

Wisst ihr nicht, dass der Messias die Armen mit Gerechtigkeit richtet und den Elenden im Land rechtes Urteil spricht, dass er den Gewalttätigen mit dem Stab seines Mundes schlägt?

Wie passt dazu, dass bei Euch die Profitraten der Pharmaindustrie und der Rüstungskonzerne noch immer maßgeblich beeinflussen, ab welchem Grenzwert jemand als zuckerkrank gilt, in welche Länder Panzer geliefert werden und in welche nicht? Wie passt zu der Liebe, in der keine Furcht ist die Angst vor den Fremden, die Euch zu den gleichermaßen verräterischen wie unhinterfragten Metaphern von der Flüchtlingsflut greifen lässt, als ob ihr in eurem reichen Land am ertrinken wärt, als ob eine neue Sintflut über euch hereinbrechen würde?

Die Liebe als Gegengift, das dem Wesen der Welt das Rückgrat bricht? Frag doch mal den Verkäufer im Eiskremwagen, der sich von seinem Wochenendtrinkgeld noch nicht mal anständigen Tabak für seine Pfeife leisten kann? Frag doch mal den großen schwarzen Orca im Aquarium, der für drei Mahlzeiten aus Konservensardinen das breite Lächeln von Kindern mit autistischen Zügen erntet. Frag doch mal Romeo und Julia, die füreinander sterben wollten und sich dann gegenseitig umgebracht haben. Nein, Liebe ist nicht die Antwort auf alles? singt die Schweizerin Sophie Hunger.

Glaubend, uns im Vertrauen von einem Tag zum nächsten hangelnd, in dem wir einen zittrigen Schritt vor den anderen setzen, bleibt uns nichts anderes übrig, als Dinge zu behaupten, die anderen wie eine Anmaßung vorkommen müssen.

Was antworten wir, wie reagieren wir, wenn andere, sei es jüdische Menschen, Atheisten oder wer auch immer uns und unseren Glauben als anmaßend empfinden. Müssen wir darauf reagieren? Wollen wir darauf reagieren? Lassen uns die Bauchschmerzen der anderen wegen dem, was auf unserer Welt passiert, kalt?

 

Wer glaubt, dass Jesus der Messias ist, der ist von Gott geboren. Wenn wir die Sprachbilder unseres Predigttextes ernst nehmen, dann liegt es nicht in unserer freien Wahl. Wir haben uns das nicht ausgedacht. So wie unsere leibliche Mutter uns unter großen Schmerzen aus ihrem Schoß geboren hat, wir es ihr verdanken, dass wir das Licht dieser Welt erblickt haben, so hat auch unser Gott uns unter großen Schmerzen geboren, auch ihm eignet diese weibliche Fähigkeit, neues Leben aus sich entstehen zu lassen. Er hat das fertig gebracht. Er hat uns das zum Geschenk gemacht, dass wir’s wagen unser Vertrauen auf den Messias Jesus zu setzen, auf den Gekreuzigten, auf den, den wir Menschen gefoltert und ermordet haben, auf den, den Gott zu einem neuen Leben erweckt hat, zu einem Leben, dem der Tod nichts mehr anhaben kann.

Daran ist dem Johannesapostel alles gelegen: dass wir aus unserem Vertrauen auf den Messias Jesus keine intime, einsame, abgeschottete Zweierkiste machen, dass wir uns bloß nicht in irgendeinem frommen Wolkenkuckucksheim verlieren, indem wir uns als die einzigen auf Gottes Seite geschlagen haben. Daran ist dem Johannesapostel alles gelegen, dass wir frei werden für die Menschen, für die der Messias Jesus brennt: für unseren Bruder, für unsere Schwester, für die, für die er sein Leben gelassen hat und ohne die er nicht zu haben ist.

Wer den liebt, der ihn geboren hat, der liebt auch den, der von ihm geboren ist, der liebt auch die, die seine Kinder sind. Wie sollte es anders möglich sein, so wahr wir denn aus ihm geboren sind? Die Liebe zu Gott ist geerdet in unserer Liebe zu unserem Bruder, zu unserer Schwester. Hier ist kein Platz für Romantik, hier ist kein Platz für unsere Sehnsucht nach Friede-Freude-Eierkuchen. Hier stoßen wir auf den harten, heilsamen Kern von Gottes Gebot. Gottes Gebot macht uns nüchtern, wach, hellsichtig für unsere blinden Flecken.

Wenn ich behaupte, Gott zu lieben, aber meinen Bruder, meine Schwester hasse, bin ich ein Totschläger, eine Totschlägerin.

 

Wenn ich behaupte, Gott zu lieben, aber mir über die Presbyter und Presbyterinnen von St. Stephan, Leitung unseres Kirchenkreises, über meinen Kollegen, meine Kollegin den Mund zerreiße, bin ich ein Totschläger, eine Totschlägerin.

Wenn ich an die Decke gehe wegen der Eltern, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, dafür zu sorgen, dass ihr Kind mit zum Konfirmandenwochenende fährt, bin ich ein Totschläger, eine Totschlägerin.

Wenn ich explodiere, tödlich beleidigt reagiere, weil ich mich von meinem erwachsenen Kind respektlos behandelt fühle, sündige ich, bin ich ein Totschläger, eine Totschlägerin, nicht besser als Kain, der seinen Bruder Abel erschlägt.

Der Hass auf meinen Bruder, auf meine Schwester ist nicht in erster Linie eine Sache des Gefühls. Es geht nicht in erster Linie um eine Kritik meiner negativen Gefühl, meiner Wut, meiner Empörung, meiner Gekränktheit, meines Neids. Es ist nicht in erster Linie eine Frage unserer unterschiedlichen Temperamente, nicht die Frage eines eher gezügelten oder eines eher ungezügeltes Temperaments.

Es ist vor allem die Frage, was ich ihm, was ich ihr jetzt tue, was ich für ihn, für sie tue oder was ich bei ihm, bei ihr anrichte: mit meinen Worten und meinen Gedanken. Es ist die Frage nach dem, was ich gerade im Begriff bin, alles zu unterlassen: die Frage nach der Zeit, die ich mir nicht nehme, nach dem Wort, dass ich ihm, das ich ihr nicht gönne, nach der Schublade, aus der ich sie nicht entrinnen lassen, es ist die Frage nach der Frage, die ich ihm gar nicht erst stelle, weil ich meine, dass ich seine Antwort schon kenne.

Daran erkennen wir, dass wir Gottes Kinder lieben, wenn wir Gott lieben und seine Gebote halten. Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt. Wer seinen Bruder, wer seine Schwester hasst, der sündigt, der ist ein Totschläger, eine Totschlägerin.

Natürlich ist das andere auch wahr. Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns. Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.

Der Johannesapostel hat keine Angst davor, sich innerhalb weniger Kapitel in solch eklatanter Weise selbst zu widersprechen. Lieber mache ich mich angreifbar, lieber gebe ich anderen die Gelegenheit, dass sie mir haarsträubende Selbstwidersprüche vorwerfen, als das ich mich dadurch versündige, dass ich aus dem Glauben an den Messias Jesus eine Kopfgeburt mache, eine Beruhigungspille, die mich in meinen täglichen Kämpfen und Anfechtungen nicht tangiert, sondern mich einsam und allein darin verkommen lässt.

Unser Gott spielt nicht auf Unentschieden. Für ihn gibt es kein ausgeglichenes Patt zwischen unserem Sündersein und seiner Verheißung, über dass er sich beruhigen könnte, keine endlose Hängepartie zwischen unserem Sündersein und seiner Verheißung, dass wir mit dem  Auferstanden leben werden, dass wir in der Kraft des Auferstandenen darum kämpfen, dass sein Wille unter uns geschieht, dass wenigstens eine Spur von seinem Reich erkennbar wird.

Wenn wir aber unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit. Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre. Ja, das ist seine unbegreifliche Gnade, von der wir leben, dass seine Güte und Barmherzigkeit alle Morgen neu ist, also auch am heutigen Morgen unserer Pfarrkonferenz.  Aber darin ist seine Güte und Barmherzigkeit neu, dass sie mich anleitet, mich heute zu bekehren, heute umzukehren, dass sie nicht müde wird, ihr Reinigungswerk an mir zu tun, dass sie sich nicht mit dem abfindet, womit ich mich schon abgefunden und meinen Frieden gemacht hatte, dass sie mich reinigt von meiner Ungerechtigkeit, dass sie mich heilt von meinem Wahn, ohne meinen Bruder, ohne meine Schwester leben zu wollen, dass sie mich heilt von meinem Wunsch, meinen Bruder, meine Schwester auszuschließen, für die Christus gestorben und auferstanden ist wie für mich.

Bitte verzeiht, dass ich heute mit so vielen, immer noch mehr Bibelworten um mich werfe, statt mich auf die zu beschränken und die mit eigenen Worten auszulegen, die uns im Predigttext als tägliches Brot für diesen Tag vorgegeben sind. Aber sie kommen mir heute vor wie kostbare Rettungsanker, die ich nötig habe, an denen ich mich langhangeln darf.

Deshalb bitte ich um Nachsicht, wenn ich’s jetzt noch einmal tue. Ja, es ist noch lange, lange nicht erschienen, was wir als Kinder Gottes einmal sein werden, wenn wir den Vater sehen werden, wie er ist, wenn wir ihm einmal gleich sein werden.

Aber heute und jetzt gilt: Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe, mit der Gott uns im Messias Jesus liebt, die treibt alle Furcht aus.

Ist es angebrachter gegen das Unrecht vorzugehen, für das Recht der Flüchtlinge einzutreten, die Mechanismen auszuhebeln und zu unterbinden, die dem Streben nach immer höheren Profit, Tür und Tor offen lassen als immer wieder von der Liebe zu reden, immer wieder von ihr den Ausgang zu nehmen und dann möglicherweise in unserem Reden davon stecken zu bleiben?

Aber was haben wir Kostbareres als die Liebe, mit der der Messias Jesus uns geliebt hat? Welchen schärferen Protest gibt es gegen das Unrecht als die Liebe dessen, der als Unschuldiger für seine Feine gestorben und auferstanden ist? Woher sollen wir die Kraft nehmen, dem Unrecht die Stirn zu bieten, dass uns selbst an den Händen und Fingern klebt, wenn wir nicht Tag für Tag aus dieser Liebe schöpfen dürfen?  Was wird uns davor bewahren zu resignieren, den Mut zu verlieren, uns daran hindern, uns mit dem abzufinden, wie wir sind, mit dem abzufinden, wie es auf unserer Welt zugeht, wenn wir seine heilende, zurechtbringen Liebe nicht hätte.

Nicht was von uns kommt, aber was aus ihm unserem Gott gebo

ren wird, überwindet die Welt. Daran lasst uns festhalten, darauf lasst uns vertrauen!

Amen

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