2015, 12, 24, 17.30 Uhr, Titus 2,11-14

 

Liebe Gemeinde,

schön dass Sie, schön dass ihr da seid. Wie in all den vergangen Jahren habe ich mich darauf gefreut, gemeinsam mit Ihnen, gemeinsam mit Euch den Auftakt des Weihnachtsfestes zu feiern. Wie verschieden wir als Menschen sind, wie verschieden die finanziellen Mittel, über die wir verfügen, wie unterschiedlich wir die Adventszeit erlebt haben, wie unterschiedlich die Verfassung, in der uns der Heilige Abend antrifft, es hat uns gemeinsam an diesen Ort, in die Kirche gezogen.

Und, ich behaupte das jetzt einfach mal: niemand von uns wird sich heute Nachmittag damit zufrieden geben, hier im Licht der Kerzen ein bisschen Weihnachtsstimmung zu schnuppern, weil es für unsere Begriffe draußen so wenig weihnachtlich aussieht. Wir sind alle, behaupte ich ein weiteres Mal, in der Hoffnung gekommen, dass wir über Gott nicht reden und spekulieren müssen, sondern dass er das Wort ergreift und zu uns redet, dass er sich dazu unserer gesungenen und gesprochenen Worte bedient, auch wenn das ein Wunder bedeutet, weil es nur fehlbare menschliche Worte sind.

Du hoffst darauf, auch heute Gottes Dir tagtäglich vertraute Stimme zu hören. Und Du hoffst darauf, dass Gott es mit Deinen Zweifeln aufnimmt. Du hoffst darauf, dass seine Stimme nach langer Zeit endlich mal wieder zu Dir durchdringt. Vielleicht hoffst Du darauf, sie endlich zum ersten Mal so deutlich zu hören, dass Du sie nicht länger ignorieren kannst. Wer sollte in der Lage sein, solche hochgesteckten berechtigten Erwartungen einzulösen, wenn nicht unser Gott selbst?

 

Unser Predigttext nimmt keinen langen Anlauf. Er steigt bei 100% ein. Für mich bringt er gleich im ersten Satz klar und bündig zum Ausdruck, warum wir Weihnachten feiern, warum es uns am Heiligabend in die Kirche zieht:

Erschienen ist nämlich die Gnade Gottes allen Menschen. Gottes Gnade ist der tragende Grund aller Dinge seit Beginn der Zeiten, seit den Tagen, in denen er die Welt ins Sein gerufen hat. Dass wir nicht nichts sind, das wir leben und atmen vor seinem Angesicht, ist ein Akt seiner Gnade. Das ist zumindest die Erfahrung von Menschen in Israel seit den Tagen, in denen Abraham und Sara, Isaak und Rebekka dem Ruf seiner Stimme gefolgt sind.

Aus reiner Gnade hat er uns, geboren aus Abrahams Samen, zu seinem Volk erwählt, ja hat uns überhaupt erst zu einem Volk gemacht, als er unsere Väter und Mütter der ägyptischen Sklaverei entrissen hat, er hat uns auf Händen getragen, ist mit uns gegangen durch dick und dünn, hat sich nicht von uns losgesagt, wie oft wir auch gegen ihn rebelliert haben. Durch all seine Gerichte hindurch haben wir in seinem Zürnen seine Liebe gespürt, hat er uns seine Treue bewiesen, Seiner Liebe und Gnade verdanken wir es, dass er sich außerstande gesehen hat, uns fallen zu lassen.

Aber nun, seit dieses Kind, Gottes Kind, im jüdischen Land, in Bethlehem, geboren ist, seitdem dieses Kind als Erwachsener sein Leben für uns hergeschenkt hat, da ist Gottes Gnade sichtbar geworden für alle Menschen. Nun gibt es niemanden mehr, der behaupten kann, er sei von dieser Gnade ausgeschlossen. Nun gibt es niemanden mehr, der so tun kann, als ginge ihn diese Gnade nichts an, als bliebe sein Leben von dieser Gnade unberührt. In dem Wesen aus Fleisch und Blut, das in der Krippe liegt, das von Maria gestillt wird, wenn es zu weinen beginnt, dass alle paar Stunden neu gewickelt werden muss, ist Gottes Gnade allen Menschen erschienen.

 

Allen Menschen, also auch Dir, ganz bestimmt auch Dir, egal wie schwach, egal wie stark Dein Glaube ist, egal wie fröhlich, wie traurig, wie genervt oder einfach nur erledigt Du heute bist, egal wie friedlich Du gestimmt, egal wie sehr Du noch immer auf Krawall gebürstet bist. Erschienen ist die Gnade Gottes dem Aufsichtsratmitglied der deutschen Rüstungsexportfirma, das in diesem Jahr über noch einmal sprunghaft gestiegene Umsätze jubeln konnte. Erschienen ist die Gnade Gottes den Angehörigen der Menschen, die in diesem Jahr bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, ertrunken sind. Erschienen ist die Gnade Gottes der jungen Frau, die sich im Irak in die Luft gesprengt und Dutzende Menschen mit in den Tod gerissen hat.

Was meinen wir damit, wenn wir von Gottes „Gnade“ sprechen und damit ein Wort benutzen, das in unserer Alltagsprache nur eine winzige Rolle spielt? Was verbindest Du mit diesem Wort, das so tonnenschwer mit Bedeutung aufgeladen ist und gleichzeitig so hoffnungslos abgenutzt und glattgescheuert erscheint. Was ist Gottes Gnade für Dich?

Mir selbst fallen als Erstes Worte aus dem 103. Psalm ein: Er, unser Gott, handelt nicht mit uns nach unserer Schuld und vergilt uns nicht nach unserer Missetat. Er fordert nicht zurück, was er mir zugewendet hat. Er klagt das nicht von mir ein. Er fordert nicht die Liebe zurück, die er mir schenkt. Er hofft, dass ich sie erwidere, aber er fordert das nicht ein. Er fordert nicht seine unglaubliche Geduld zurück. Er fordert nicht seine Treue ein. Er leidet unter meiner fortgesetzten Untreue, sie treibt ihn an die Grenze des Wahnsinns. Aber er zahlt meine Untreue nicht damit zurück, dass er untreu wird.

Er handelt nicht. Er macht keine Balance- und Rechenspielchen nach dem Prinzip „Wie du mir so ich dir“. Er macht seine Haltung mir gegenüber nicht von dem abhängig, wie ich mich ihm gegenüber verhalte. Er sucht den Kontakt mit mir, wenn ich Ewigkeiten nichts von mir hören lasse. Er setzt Erwartungen in mich, wenn ich ihn abgeschrieben habe. Er zweifelt nicht an mir, wenn ich an ihm zweifele. Er reagiert auf meine verletzende Art, wenn ich ihn wie Luft behandele, nicht wie ich das tue mit Ausrasten, mit Beleidigtsein. Er fängt nicht damit an, es mir heimzuzahlen, indem er mich zu verletzen sucht. Er beantwortet meine Besserwisserei, den Stolz, mit dem ich seinen Rat in den Wind schlage, nicht mit verletzter Eitelkeit. Er überlässt mich den Folgen meiner Taten, meiner Entscheidungen, aber er zahlt es mir nicht heim.

Wir wenden ihm den Rücken zu, wir weisen ihn ab, sperren ihn raus aus dem, was uns in Atem und auf Trab hält und er sucht unsere Nähe in dem neugeborenen Kind, das fernab von allem Blitzlichtgewitter der Fotographen in einem unscheinbaren Stall zur Welt kommt.

Er überlässt Maria und Joseph und das ungeborene Kind dem Befehl des Kaiser Augustus, der offensichtlich auf mehr Steuereinnahmen aus ist. Er lässt es geschehen, dass sein Kind schon vor seiner Geburt an den Rand gedrängt wird. Eine Futterkrippe muss als seine erste Wiege herhalten. Maria und Joseph ist es schon Recht so, dem Vater im Himmel bereitet es keine Kopfzerbrechen. Warum auch? Er will bei den Armen und Kleinen wohnen. Die Hirten von Bethlehem sollen das Kind als erste sehen.

König Herodes will das Jesuskind töten. Er richtet ein Blutbad an. Gott rettet das neugeborene Kind vor seiner Gewalt, aber nicht, indem er zurückschlägt. Sondern indem er zurück weicht und dafür sorgt, dass Maria und Joseph die Flucht gelingt und sie in Ägypten Asyl finden.

 

Wir kennen die Wege, die der erwachsene Jesus geht. Wir wissen, wohin das Kind von Bethlehem sein Weg führt. Nach Golgatha, wo er einen qualvollen Tod stirbt, unschuldig verurteilt, als Aufrührer verkannt, angeklagt als Gotteslästerer, aus schwer zu ergründenden Motiven ausgeliefert von einigen der Seinen, die in Jerusalem das Sagen haben. Und wieder schlägt er nicht zurück, zahlt er nicht heim, sondern betet für die, die ihn foltern, ihn verfluchen, ihn verspotten, ihn im Stich lassen.

Wie kann Gott sich uns nur so ausliefern? Wie kann er sich nur so klein und gering machen, so schutzbedürftig und so verletzlich, so angreifbar. Was wird aus der Gnade Gottes, die in dem Kind von Bethlehem allen Menschen erschienen ist und so auch Dir und mir? Was kann, was wird Gottes Gnade unter uns ausrichten? Teilst Du die Befürchtung, dass sie auf verlorenem Posten steht, nicht nur

bei der irakischen Selbstmörderin, nicht nur bei dem Aufsichtsratsmitglied der Rüstungsexportfirma, sondern auch bei Dir und bei mir? Mein nächster Ausraster aus dem Gefühl, verletzt zu sein, kommt bestimmt. Zeigt das nicht, dass Gottes Gnade Tag für Tag bei mir am Scheitern ist?

Erschienen ist nämlich die Gnade Gottes allen Menschen, erschienen ist die Gnade, die uns in Zucht nimmt, die uns in ihre Richtung zieht, die uns in Beschlag nimmt, weil sie uns für sich gewinnt. Unser Predigttext ist also entschieden anderer Meinung. Nein, nicht unser Predigttext, sondern Gott ist entschieden anderer Meinung. Er weigert sich, sich darin beirren zu lassen. Er lässt nicht davon ab, er hält daran fest:

alle Sogkraft, die von ihm ausgeht, alles, was uns an Gott an– und in seine Richtung zieht, das, was allein im Stande ist, die Bosheit deines und meines Herzens zu überwinden, das ist seine Gnade: das, was er aus Gnade tut. Das, was allein im Stande ist, uns davon abzuhalten, weiter vor Gott wegzulaufen und ihm aus dem Weg zu geben, das, was allein imstande ist, unsere Gottlosigkeit zu besiegen, das ist die Macht der Gnade, die im Kind in der Krippe allen Menschen erscheint.

 

Meine Gnade ist nicht zu schwach, sie ist nicht zu ohnmächtig, sagt unser Gott. Sie bleibt nicht ohne Wirkung, auch nicht in Deinem Leben. Wenn es den Leuten der Rüstungsexportfirma gelingt, auszublenden, was die von ihnen hergestellten Waffen in den Krisengebieten anrichten, in die sie verkauft werden, dann spricht das eher dafür, dass sie noch all zu wenig von dieser Gnade erfasst haben, dass sie ihnen bisher ein Fremdwort geblieben ist, zu dem sie keinen Zugang haben, ansonsten wären sie außerstande weiter das zu tun, was sie tun.

Wenn die Frau, die Dutzende Menschen mit in den Tod gerissen hat, dies tatsächlich in dem Glauben getan haben sollte, dass sie Gott damit einen Gefallen tun wollte, dann ist das ein deutlicher Hinweis, dass da niemand war, der ihr das groß gemacht hätte: dass Gottes Gnade in dem Kind von Bethlehem allen Menschen erschienen ist.

 

Wenn die europäischen Staaten, maßgeblich auf deutschen Druck, das bisherige Seenotrettungsprogamm Mare nostrum canceln, um sich mit dem auf 30 Millionen jährlich abgespeckten Triton-Programm nun vor allem die Unglücks-Schiffe mit den Flüchtlingen vom Leib zu halten, dann entpuppt sich das Gerede vom christlichen Abendland als Heuchelei, dann verhöhnen sie den Gott, dessen Gnade allen Menschen erschienen ist.

Wenn ich in meinem Gefühl der Verletztheit um mich schlage, und selber den anderen, die andere verletze, dann offenbart sich darin ein eklatanter Vertrauensmangel, dass die Gnade Gottes in dem Kind von Bethlehem gerade auch mir erschienen ist, dass sie tatsächlich mich meint, dass sie gerade mit gut will, dass sie gerade mir gut tut und dass der andere, die andere, sie keinen Deut weniger braucht als ich.

 

Gottes Gnade, unsere liebevolle Zuchtmeisterin, ist nicht ohnmächtig, sie ist und bleibt die real verändernde Kraft in Deinem und meinem Leben. Und weil sie das weiß, deshalb gibt sie nicht auf, deshalb denkt sie nicht daran, sich geschlagen zu geben. Wir betrüben unseren Gott, wir nehmen uns nur selbst die Freude über Gottes Gnade, indem wir sie in Zweifel ziehen, indem wir viel zu gering von ihr denken, indem wir sie voller Stolz zurückweisen, indem wir aufs Neue der Versuchung erliegen, sie mit unseren vermeintlichen Guttaten verdienen zu wollen.

Nur dort, wo Geist es fertig bringt, dass ich sie als unverdientes Geschenk in Empfang nehme, nur da beginnt sie ihre Wirkung zu entfalten. Es gibt sie nur als unverdientes Geschenk. Es gibt sie nur an der Krippe, es gibt sie nur in der Gesellschaft der Hirten. Es gibt sie nur in der Gegenwart des neugeborenen Wesens aus Fleisch und Blut, in dem Gott selbst sich uns zum Geschenk macht.

Amen

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