„Was willst Du mal werden?“, fragt die Ärztin das 9-jährige Mädchen, die sich selbst die Untersuchungselektroden abnehmen darf. Bennis Gesicht verwandelt sich in ein spitzbübisches Lächeln: „Erzieherin!“ Schnitt: Eine so-laut-es-die-Lungen-hergeben schreiende, um sich schlagende Benni, umringt von einem Pulk von Kindern, bis ein Erzieher sie gewaltsam von den anderen wegzerrt und anschreit, dass sie sich jetzt beruhigen soll.
Im Hof alleingelassen lässt sie ihre Wut an mehreren Bobby-Cars aus. Sie traktiert sie mit Tritten. Sie schleudert sie so lange gegen die Türen, bis in dem Panzerglas doch ein Riss entsteht und in krakeligen, aneinander gedrängten Großbuchstaben das Wort „Systemsprenger“ die Glasfläche ausfüllt.
Benni schreit, flucht, provoziert mit Kraftausdrücken. Sie reagiert gewalttätig nicht nur gegenüber Sachen, auch gegen andere Kinder: wenn sie sich bedroht fühlt, um sich gegen verbale Attacken zur Wehr zu setzen und vor allem dann, wenn ein Kind oder ein Erwachsener sie gezielt oder gedankenlos im Gesicht berührt. Dann rastet sie vollkommen aus und weiß nicht mehr, was sie tut. „Es kommt daher, dass ihr als kleines Kind Windeln ins Gesicht gedrückt wurden“, sagt ihre Mutter. Sie ist die, die ihr Gesicht berühren, es streicheln darf.
Benni hat so ein unverblümtes, eine Spur dreckiges, lautes, gewinnendes Lachen. Sie kann reden wie ein Wasserfall, ohne Punkt und Komma. Sie kann entwaffnend schlagfertig sein. Ihrem Bitteln und Betteln zu widerstehen ist schwer. Ihr Hoffnungspotential scheint unkaputtbar, all den unzähligen Enttäuschungen zum Trotz, am schlimmsten durch ihre heiß und innig geliebte, mit sich selbst überforderte, großes Kind gebliebene Mutter. Woher nimmt dieses Kind nach so vielen niederschmetternden Erfahrungen die Energie, die Kraft, die Zuversicht, über das Glückversprechen, zu ihrer Mutter zurückkehren zu dürfen, in solch einen ungebremsten Freudentaumel auszubrechen und bei Mac-Donalds auf dem Tisch zu tanzen? Woher nimmt Benni die Feinfühligkeit und Stärke, als ihre Mutter auch dieses Versprechen bricht, ihre über die Wortbrüchigkeit von Bennis Mutter verzweifelnde, im Flur am Boden in Tränen aufgelöste Sozialarbeiterin tröstend in die Arme zu nehmen?
Von jeder ihrer zahlreichen Pflegefamilien hat Benni zum Abschied ein Fotoalbum geschenkt bekommen. Bleiben durfte sie bei keiner von ihnen. Die Zahl der Heime und Wohngruppen, die nicht mehr bereit sind, Benni aufzunehmen, wird länger und länger. Zu stark die Sorge, die anderen Kinder vor ihren Ausbrüchen nicht schützen zu können.
Benni bekommt einen Schulbegleiter, der Erfahrung mit straffälligen männlichen Jugendlichen hat. In der allgemeinen Ratlosigkeit, wie es mit Benni weitergehen soll, bietet er an, mit ihr für drei Wochen in sein einsames Waldhaus ohne Strom zu fahren. Mit den Jungs hat er das mehrfach gemacht. Die Sache mit Benni gestaltet sich viel schwieriger, als er sich das vorgestellt hat. Aber die Ruhe tut ihr tatsächlich gut. Vor allem aber tut ihr gut, wie Micha ihr auf Augenhöhe gegenüber tritt, sie um Verzeihung bittet, wenn er einen Fehler macht, sie aber auch mit den Konsequenzen ihres eigenen Tuns konfrontiert. Sie spürt, dass er sie mag. Sie fängt an, ihm Vertrauen zu schenken.
Es läuft darauf hinaus, dass sie sich bei der Rückkehr nicht nur wörtlich an sein Bein klammert. Micha und seine Frau haben einen kleinen Jungen, seine Frau ist schwanger. Benni wünscht sich, dass er sie adoptiert. Aber mehr als eine Übernachtung kann sie mit all ihrer Anhänglichkeit nicht herausschlagen. Micha spürt, dass seine gebotene berufliche Distanz dahinschmilzt. Er erwägt zur Bestürzung von Bennis Sozialarbeiterin, die Betreuung für sie abzugeben.
Wenn ich Benni zusehe, denke ich an die obenstehenden Worte von Paulus über die Liebe . An wen, wenn nicht an die Liebe, mit der Gott uns liebt, denkt Paulus bei diesen Worten. Und trotzdem spricht er Gottes Namen, ich denke wohlweislich, nicht aus. Gottes Liebe findet ihr Ziel, wenn sie es schafft, dass wir uns trauen, uns so zu lieben, wie er uns liebt.
Im Film ist beides gleichzeitig da. Es gibt Spuren dieser Liebe: bei Micha, bei Bennis Sozialarbeiterin, bei ihrer Pflegemutter; bei allem, was man ihr vorwerfen mag, auch bei Bennis leiblicher Mutter. Und es gibt die Grenzen, auf die solche Liebe stößt. Wer vermag es Micha und seiner Frau verdenken, dass sie Benni nicht in ihre Familie aufnehmen? Hat Bennis Sozialarbeiterin nicht alles in ihrer Macht stehende getan? Wer gibt uns das Recht über Bennis Mutter zu urteilen, noch dazu ohne nach der Verantwortung der beteiligten Männer zu fragen? Es gibt keine einfache Lösung.
Und dennoch: Wenn Benni dem neugeborenen Kind von Micha und seiner Frau morgens die Flasche zubereitet und gibt, damit die beiden noch ein wenig länger schlafen können; wenn sie an Micha oder ihre Mutter klammert, vor allem aber, wenn sie den Erwachsenen wieder und wieder davon läuft, ihnen voraus bleibt, was ist das anderes als die gelebte Weigerung, sich mit den Grenzen der Liebe abzufinden?
Mit weniger als einer Liebe, die alles glaubt, die alles hofft, die alles erträgt, die niemals aufhört, kann und will Benni sich nicht zufriedengeben. So wahr Gott will und er lebt soll kein Mensch sich mit weniger zufrieden geben.
Winfried Reuter
Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf,
sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern,
sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit,
sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Die Liebe hört niemals auf. 1. Korinther 13,4-7