Seit einer Woche sitz ich täglich bis tief in die Nacht am Rechner und erlebe – hauptsächlich live auf CNN – mit, was in den USA passiert. Und bin fassungslos bis wütend über das, was die Trump-Regierung tut, sagt und lügt. Bin entsetzt über die unzähligen Fälle von Polizeibrutalität. Und bin tief berührt von der Beharrlichkeit und dem Mut dieser mittlerweile Hunderttausende von überwiegend jungen Männer und Frauen ALLER Hautfarben, die friedlich gegen Rassismus und zunehmend auch gegen Polizeibrutalität protestieren.
Ich hab in dieser Woche so viel gebetet wie noch nie in meinem Leben. Es war eine Achterbahn der Gefühle. Ich hab oft geweint, aber auch so vieles gesehen, was mein Herz erwärmt hat.
Und in mir wächst die Gewissheit, dass diese Bewegung ein großer Schritt auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit in den USA ist. Und dass Trumps Umgang mit dieser Bewegung genügend Wählern die Augen geöffnet hat und sie ihm im November die Quittung dafür geben werden. In den letzten Jahren hab ich allen, die gesagt haben: „Die Amis sind doch bescheuert, so einen zum Präsidenten zu wählen“ immer entgegengehalten, dass 3/4 aller Amis Trump NICHT gewählt haben. Und viele von diesen 3/4 melden sich gerade eindrucksvoll zu Wort.
In den ersten Tagen, als die größtenteils friedlichen, massenhaften Proteste tagsüber noch von nächtlichen Gewaltakten und Plünderungen überschattet wurden und Polizei und Nationalgarde vielerorts mit unglaublicher Härte gegen Demonstranten vorgegangen sind, war ich zutiefst erschüttert, schockiert und empört. Aber in der zweiten Hälfte der Woche ist meine Stimmung umgeschlagen. Weil ich gesehen hab, dass die Demonstranten sich nicht einschüchtern ließen und sogar von Tag zu Tag immer mehr wurden. Weil sich diejenigen durchgesetzt haben, die ihren Protest gewaltfrei zum Ausdruck bringen wollten. Und weil dadurch auch die zuvor geschlossene Front der Staatsgewalt zu bröckeln begann. Plötzlich gab es Polizisten, die zusammen mit Demonstranten aufs Knie gegangen sind. Polizeipräsidenten, die bei Demonstrationen in vorderster Linie mitmarschiert sind. Und Bürgermeisterinnen, die auf Deeskalation und Dialog gesetzt haben und den Bürgerkriegsfantasien von Trump den Wind aus den Segeln genommen haben. Allen voran Muriel Bowser in Washington D.C., der diese Stadt jetzt einen ‚Black Lives Matter Plaza’ direkt vor dem Weißen Haus verdankt.
Was mich ebenfalls zuversichtlich stimmt, ist die Tatsache, dass Trump diesmal für alle Welt sichtbar sozusagen in Echtzeit beim Lügen ertappt wurde. Denn während er am vergangenen Montag im Rosengarten des Weißen Hauses seine „Law and Order“-Rede gehalten und darin behauptet hat, er sei der Verbündete aller friedlich Protestierenden, wurden in Hörweite friedliche Demonstranten von einem martialischen Aufgebot an Polizei und Militär mit Schlagstöcken, Blendgranaten, Tränengas und Gummigeschossen auseinandergetrieben. Nur damit er danach bei einem Fototermin vor der St. John’s Kirche ein Buch in die Höhe halten konnte, in dem er offenbar nie gelesen hat: eine Bibel. Ein Pastor der Gemeinde gehörte übrigens zu den Opfern der brachialen Räumungsaktion und die für die Kirche zuständige Bischöfin war außer sich, dass Trump diese und die Bibel für seine Propagandazwecke missbraucht hat. Hinterher auch noch zu behaupten, es seien keine Gummigeschosse und kein Tränengas gegen diese „Terroristen“, wie Trump sie nennt, eingesetzt worden, war ausgesprochen dumm. Wenn man schon lügt, dann besser nicht über ein Ereignis, bei dem ein Dutzend Kamerateams vor Ort sind und mit ihren Aufnahmen das Gegenteil beweisen können. Selbst Trumps Lieblingssender Fox News ist in diesem Fall auf Distanz zu ihm gegangen.
Ermutigend im Hinblick auf die im November anstehenden Wahlen fand ich auch, dass alle vier noch lebenden Ex-Präsidenten einschließlich des Republikaners George W. Bush Trump kritisiert haben, insbesondere für seine Drohung, reguläre Truppen gegen das eigene Volk einzusetzen. Und dass – für die USA völlig unüblich – gleich ein halbes Dutzend hochrangige Offiziere im Ruhestand von General Jim Mattis bis General Colin Powell sich mit zum Teil noch viel deutlicheren Worten gegen den amtierenden Präsidenten gestellt haben. Und das sind Männer, die bei den Stammwählern von Trump hohes Ansehen genießen. Genau wie der ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney, der sich heute den Demonstranten angeschlossen hat.
Genützt hat Trump dieses ganze durchsichtige Wahlkampfmanöver wenig. Im Gegenteil. In den aktuellen Umfragen fällt er immer weiter hinter den demokratischen Kandidaten Joe Biden zurück. Entscheidend für den Wahlausgang wird aber sein, wie viele die Strapazen, die in den USA mit dem Wählen verbunden sind, auf sich nehmen werden, um mit Biden einem Politiker zum Sieg zu verhelfen, den sie auch nicht für das Gelbe vom Ei halten. Eine ganz ähnliche Situation wie bei der letzten Wahl. Nur dass Trump in den letzten Monaten extrem viel dafür getan hat, um den Wählern – abgesehen vielleicht vom harten Kern seiner vor allem aus unbelehrbaren Rassisten, Evangelikalen und Reichen bestehenden Stammwähler – vor Augen zu führen, dass wirklich jeder besser ist als er.
Auch heute, am 13. Tag nach George Floyds Tod, versammeln sich in den USA und darüber hinaus in zahlreichen anderen Ländern der Erde wieder Hunderttausende, um gegen Rassismus und Polizeibrutalität zu demonstrieren. Und ich bin in Gedanken bei ihnen. Und gegen Rassismus und Polizeibrutalität in den USA und anderswo!
Schließen möchte ich mit einem Bild, das mich heute am meisten gerührt hat: Mitten zwischen den Demonstranten geht ein Schwarzer, ein echter Kleiderschrank, vor einem etwa sechs Jahre alten blonden weißen Mädchen in die Hocke und die beiden geben sich lachend High Five.
Vlotho, den 7. Juni 2020
Dieter Westermann