Predigt 1. Weihnachtstag 2019, Titus 3,4-7

Liebe Gemeinde

Nun liegt er hinter uns, der Heilige Abend. Ich glaube, nicht nur ich als Pastor, sondern wir alle haben in den vergangenen Wochen auf diesen Tag hingelebt, haben uns darauf gefreut und ein bisschen wie immer darüber gestöhnt, dass die Vorbereitungen anstrengend waren und wie schlimm das mit der Geschäftemacherei rund um das Weihnachtsfest ist.

Ich liebe unsere Gottesdienste am Heiligabend, das Krippenspiel der Kinder, ihre Mischhung aus Ernsthaftigkeit und Fröhlichkeit, und den festlichen Gottesdienst am späten Nachmittag mit der wunderschönen Musik von Familie Ausländer.

Wie ist es Ihnen, wie es Euch am Heiligabend ergangen? Was hat Sie berührt? Was ist Euch nahe gegangen?

Mit welchen Erwartungen bist Du, sind Sie jetzt in den Gottesdienst gekommen? Die Geschäfte bleiben bis auf Weiteres geschlossen. Es ist stiller als sonst auf unseren Straßen, mir jedenfalls kommt das an Weihnachten immer so vor, stiller auch als gestern Abend in unserer Kirche, auch wenn wir heute morgen schon viel gesungen haben.

Die Frohe Botschaft ist dieselbe: Gottes Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Fürchtet Euch nicht, hat der Engel gesagt. Siehe ich verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Euch ist heute der Heiland geboren.

Die Hirten konnten das nicht für sich behalten und so ist die frohe Botschaft aus zu uns gekommen. Allem Volk wird die frohe Botschaft widerfahren, so wie der Engel gesagt hat. Damit wir es bloß nich überhören, hebt der Apostel es noch einmal hervor: Uns hat Gott errettet durch das neugeborene Kind. Wir, Du und ich, wir brauchen Gottes Freundlichkeit und Menschenliebe, um neue Menschen zu werden.

Die Menschen in den zerstörten Dörfern und Städten Syriens brauchen Gottes Freundlichkeit und Menschenliebe, die Christen und Christinnen in Nigeria brauchen sie, die sich vor den Angriffen der Boko Haram fürchten, brauchen sie genau so wie die Hungernden in den Slums von Rio de Janeiro. Die Spitzenfunktionäre in der Autoindustrie, die Aufsichtsratsmitglieder der Banken, die dem Diktat der höheren Profitrate folgen, brauchen Gottes Freundichkeit und Menschenliebe. Wir selber brauchen sie, weil sie uns rettet, weil sie neue Menschen aus uns macht.

Wenn wir dem Kind von Bethlehem in die Augen sehen, dann können wir an Gottes Freundlichkeit und Menschenliebe nicht mehr vorbeisehen. Der Gottessohn Jesus kommt hinein in unseren Dreck, in unsere Kleinstadtenge. Er sieht uns an mit seinem freundlichen Blick, wenn wir gerade dabei sind, uns bei Dritten über einen Menschen auszuweinen, weil wir uns nicht trauen, ihm selbst zu sagen, womit er uns wehgetan hat.

Gott denkt keine Sekunde lang daran, seine Mission abzubrechen, weil Maria und Joseph von einer verschlossenen Tür zur nächsten geraten, weil sein Kind in einer Futterkrippe liegt, weil es Windeln braucht wie wir, weil es hungrig nach den Brüsten seiner Mutter schreit, wie wir das als kleine Kinder getan haben. Gott denkt keine Sekunde daran, seine Mission abzubrechen, weil Maria und Joseph mit dem Kind vor der erbarmungslosen Gewalt von König Herodes fliehen müssen, nicht anders als tausende von Menschen jetzt in diesen Minuten auf der Flucht sind, ohne zu wissen, ob sie je ihr Ziel erreichen werden.

Gott lässt sich in seiner Freundlichkeit, in seiner Liebe zu Dir und mir nicht erbittern. Er bringt sein Kind nicht vor Dir und mir in Schutz, wenn er merkt, auf wie dünnem Eis sich unsere Freundichkeit und unsere Menschenliebe bewegt:

Ein bisschen Gegenwand von jemandem, den ich mag, von dem ich denke, dass er mir wohlgesonnen ist, und schon habe ich beim Abendmahl Scheu, mich direkt neben die betreffende Person zu stellen.

Ein-, zwei- drei Mal mich über jemanden so richtig geärgert, und ich fühle mich innerlich überlege und frage mich, ob ich mit diesem Menschen wirklich auf Dauer zusammenarbeiten will.

Warum fällt mir das so schwer, einem bestimmten Menschen etwas zu vergeben, was nun schon so viele Jahre zurückliegt, und an was diese Person wahrscheinlich im Gegensatz zu mir schon lange nicht mehr denkt?

Wie ist das mit Liebe zu dem Menschen, der immer nach unten oder zur Seite sieht, wenn er mir auf der Straße begegnet, nur um mich nicht grüßen zu müssen, jedenfalls kommt es mir so vor.

Weil meine Menschenliebe sich auf so dünnem Eis bewegt, das jederzeit einbrechen kann; weil ich meiner Liebe so wenig die Kraft zutraue, das Böse zu überwinden, deshalb brauche ich das, heute und an jedem neuen Tag: das Staunen darüber lernen, was Gottes Liebe sich zutraut.

Du und ich, wir brauchen die Freundlichkeit, mit der uns das Christuskind ansieht, wir brauchen die Liebe, die sich unser erbarmt, auch wenn wir nicht ein einziges Werk der Gerechtigkeit vorzuweisen hätten.

O, das würden wir gerne, Gott gegenüber etwas vorzuweisen haben, überzeugende Taten, die uns in seinen Augen liebenswürdig machen. Das würden wir gerne, vorbildliche Eltern sein, die immer die richtigen Worte finden, durch nichts aus der Fassung zu bringen; tolle Großeltern, zu denen die Enkel so gerne kommen, weil sie mehr Geduld mit ihnen haben als die eigenen Eltern; Super-Arbeitskollegen, die keine Scheu haben, sich zugunsten derer, die offensichtlich gemobbt werden, mit den Vorgesetzten anzulegen;

glaubwürdige Christen und Christinnen, die andere beeindrucken, weil sie tun, was sie sagen; die ihren Glauben leben, die sich ihres Herrn, der armselig und hilfsbedürftig in der Krippe liegt, nicht schämen, die mitreißend von Gott erzählen können, die nicht von Zweifeln angefressen sind.

Auch Du und ich, wir brauchen den Gott, der sich unser im Christuskind erbarmt. Wenn wir merken, dass das mit dem Bild, das wir so gerne bei den anderen erwecken möchten, nicht hinhaut, dann tendieren wir schnell zum Gegenteil. Dann machen wir uns zum Richter über uns selbst. Und dieser Richter geht unbarmherziger mit uns um als der Rest der Welt. Dann spüren wir unseren versteckten Motiven und Hintergedanken nach und werden reichlich fündig. Kein Wunder, denn die gibt es ja, die versteckten Motive und Hintergedanken.

Dann üben wir uns in harter Selbstkritik, um wenigstens damit unseren Gott und unsere Nächsten beeindrucken zu können, dass wir nicht blauäugig sind, dass wir unsere Fehler und Schwächen kennen, uns ihrer bewusst sind und sie uns von Herzen leid tun.

Das liegt einfach an mir, dass ich noch immer keine Stelle gefunden habe. Ich kann mich einfach nicht verkaufen. Ich trete nicht selbstlicher auf. Ich bin zu nett, eben nur nett.

Es liegt an mir, dass ich das alles nicht besser auf die Reihe bringe, den Haushalt und die Berufsarbeit. Ich habe einfach nicht die richtige Zeiteinteilung. Wenn ich doch bloß ein bisschen Abstriche an meinem Perfektionswahn machen könnte!

Das liegt an mir, dass da gestern Abend dieser gereizte Unterton war. Warum konnte ich mir diese ironische Bemerkung gleich zu Beginn nicht verkneifen. Das liegt an mir, dass nicht mehr zu den Veranstaltungen kommen. Ich bin nicht freundlich genug. Vor allem bete ich viel zu wenig.

Wer rettet Dich und mich vor diesem ewigen Hin- und Herpendeln zwischen dem, was wir uns einbilden auf das, was wir getan haben, und unserer Selbstzerknirschung darüber, dass es irgendwie doch wieder nicht so geworden ist, wie wir uns das vorgenommen haben?Wer andres wird das tun als die Freundlichkeit und die Menschenliebe des Christuskindes, das da ist und da bleibt und mich zerknittertes Menschenkind anstrahlt.

Nicht weniger ist dazu nötig, als dass Du und ich neu geboren werden. Aus Gottes Liebe neu geboren werden. Ihm mehr glauben als meinen schlechten Erfahrungen, ihn meine Kränkungen heilen lassen; ihn machen lassen, dass er mich in die richtige Richtung bringt, ihn zum Guten wenden lassen, was ich gründlich versaut habe; tief durchatmen, weil er mir vergibt, mir die Liebe verzeiht, die ich schuldig geblieben bin; Hoffnung schöpfen, dass, wenn Gott mir verzeiht, die anderen es vielleicht auch fertig bringen.

Nicht weniger ist dazu nötig als die Macht des heiligen Geistes, die Macht der Geistkraft, mit der Gott unseren Kosmos ins Leben gerufen hat. Nicht weniger als ihre Macht zu erneuern, ist dazu nötig. Aber diese Macht, die ist durch unseren Retter Jesus Christus reichlich unter uns ausgegossen. Nein, wir haben nicht zu wenig davon. Nein, wir sind im Vergleich zu Petrus und Paulus und Martha und Maria und all den anderen keine Stiefkinder des Heiligen Geistes.

Gottes Geist ist auch über Dich und mich reichlich ausgegossen. Gott macht sich keine Sorgen um das, was dabei, scheinbar nutzlos, neben uns im Boden versickert. Er hat reichlich ausgegossen.

Bezweifelst Du das? Sind Du und ich blind für das, was der Heilige Geist in Deinem und meinem Leben schon bewirkt hat? Sind wir blind für das, was er gerade eben im Moment vorhat, durch uns und an uns zu tun?

Dass er Dich und mich heute hier hingebracht hat. Dass er mir den Mut gegeben hat, mich die Stufen zur Kanzel hinaufzuwagen, hoffend, dass er sich meiner Menschenworte annimmt. Sind wir blind dafür, dass es Gottes Geist ist, der Deinen und meinen Hunger danach weckt, Gottes Stimme zu hören, Hunger danach, dass Gott uns mit den eigenen Stimmen, mit der eigenen Selbstherrlichkeit und mit den eigenen Anklagen nicht alleinlässt.

Denkst Du daran, dass Gott diesen Hunger schon ungezählte Male in Deinem Leben gestillt hat, dass sein Geist jetzt in diesem Moment mit allen Händen beschäftigt ist, Deinen und meinen Hunger nach Gottes Stimme zu stillen?

Denkst Du daran, wie oft Gottes Geist Dich erfolgreich daran gehindert hat, einen Eisblock aus Dir zu machen, Dich dazu gebracht hat, dass Du Dich von anderen Menschen, manchmal von wildfremden Menschen berühren lässt, und ihretwegen Gespräche führst, zum Telefonhörer greifst, E-Mails schreibst, Dein Portemonnaie öffnest.

Dass Geist Dich davon abhält, dass Du Dich in Deinen vier Wänden verkriechst, dass er Dir hilft, dass Du noch den Ausschaltknopf am Fernseher und am Computer findest, den Mut, den Fuß über die Schwelle zu setzen und Dich unter die Menschen zu wagen.

Denkst Du daran, dass die Heilige Geistkraft das schafft, dass Du manchmal selbst überrascht bist, wie leicht es Dir fällt, einen Irrtum einzugestehen; Dich darüber zu freuen, dass Dein Kind Recht gehabt hat, und nicht Du mit Deinen Bedenken und Verdächtigungen.

Heute an Weihnachten hören wir aus dem Mund des Heiligen Geistes, dass wir Erben sind, nicht nur erbberechtigt, sondern als Erben eingetragen. Die Freundichkeit und Menscheniebe Gottes, die sein Messias verbreitet, hat uns die Hoffnung vererbt. Diese Hoffnung kann uns niemand nehmen. Niemand kann sie auslöschen.

Der Cherub mit dem Schwerrt hat auf Gottes Befehl hin seinen Wachtposten geräumt. Der Himmel steht offen, der Weg ins Paradies ist frei. Wir sind dorthin unterwegs, wo Gott und Jesus herrschen, im erneuerten Himmel, au f der erneuerten Erde.

Erneuert werden Himmel und Erde durch Gottes Freundlichkeit, durch seine Liebe zu uns Menschen. Erneuert in das Leben, das wir ewig nennen, wo uns die Zeit nicht mehr zwischen den Händen zerrinnt.

Diese Hoffnung wird uns tragen. Sie wird uns durch unser Versagen führen. Sie wird uns die Kraft geben, in dieser zerrissenen Welt zu leben und den Spuren des Kindes von Bethlehem zu folgen.

Amen

Dieser Beitrag wurde unter Predigten, Uncategorized veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert